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the heART of documentary

Wie viele Filme aus einem Bestand von 330 würden sie sagen, kann man sich an sechs Tagen zu Gemüte führen? Diese Rechnung scheint ganz einfach, wenn man bedenkt, dass es eigentlich nur möglich ist, sich pro Tag sechs Vorführungen anzuschauen. Der schnelle Kopfrechner schreit jetzt wahrscheinlich Sechsunddreißig, jedoch ist es nicht so trivial geehrter Schnelldenker. Denn weiterhin zu bedenken sei, dass das kein üblicher Bestand aus Filmen ist. So gesellen sich Werke von kürzester Präsenz und solche mit ausgeprägtestem Drang zum ausschweifenden Erzählen zusammen. So das man pro Aufführung auch mal zwei bis zehn Beiträge bestaunen kann.

Wo dies wundervolle Ereignis stattgefunden hat? Leipzig. Genauer gesagt zwischen dem 26. Oktober und dem 1. November in Leipzig. Zu dieser Zeit verwandelte sich die Stadt wieder in das internationale Zentrum für den zeitgenössischen Dokumentar- und Animationsfilm bei der 52. DOK Leipzig, dem größten deutschen und weltweit ältestem Festival für Dokumentarfilme. Aus 2578 Einreichungen aus 108 Ländern wurden 330 Filme (die durch 69 Länder vertreten wurden) ausgewählt und in 12 Kinosälen vorgeführt. Insgesamt wurden 34.200 Besucher des Festivals gezählt, was einen neuen Besucherrekord darstellt. So hielt ich mich zwischen ihnen, in bester Dokumentarfilmtradition, am Rande des Festivals als „Fliege an der Wand“ auf, um ihnen nun das 52. DOK Leipzig präsentieren zu können.

Den Wettbewerben wird bei solch einem Filmfestival natürlich mehr Bedeutung zugemessen, als den weniger offensichtlichen Sonderreihen oder den Retrospektiven, da es hierbei schließlich auch um Geld geht. Das Preisgeldvolumen betrug dieses Jahr 67.000 €. Diese wurden nun unter anderem in vier zentralen Wettbewerben verteilt. Da diese Wettbewerbe noch genug Aufmerksamkeit erfahren werden, soll an dieser Stelle ein selektiver, speziellerer Blick auf die Sonderprojekte des DOK Leipzig geworfen werden.


T.I.A. – This is Africa

Ein Jahr lang hat der Kurator dieser Reihe Matthias Heeder für das Programm recherchiert. Natürlich ging es um dokumentarisches, also jene Form des Filmes, der die Fähigkeit zugesprochen wird, spezifische Sichtweisen aufzuzeigen und somit andere eventuell auch zu widerlegen. Und so kamen 20 Beiträge zusammen, die das Bild Afrikas hierzulande auf den Stand der Gegenwart lenken sollten. So sagt Matthias Heeder: „Afrika ist ein Kontinent […] mit einer lebendigen, künstlerisch vielfältigen und selbstbewussten Filmkultur.“ Das afrikanische Kino emanzipiere und entwickele sich, wovon Deutschland aber keine Notiz nehme. Die Auswahl an Dokumentar- und Animationsfilmen enthielt Beispiele, die sich mit gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen, wie z. B. der wachsenden Emanzipation afrikanischer Frauen („La femme porte l’Afrique“), aber auch Künstlerportraits („Ngweya – The Crocodile“ / „Yandé Codou, griot of Sengho“) und die Faszination Film selbst („Lieux saints“) sind als Themen vertreten gewesen. DOK Leipzig zeige afrikanische Filme, die dem deutschen Publikum nicht zugänglich seien und biete somit „einen genuinen – nicht europäischen – Blick auf das Leben in Afrika“, sagt Festivaldirektor Claas Danielsen. Erfreulich war dann auch, das viele afrikanische Regisseure anwesend waren und somit die Möglichkeit für die Besucher bestand, nach den Filmen Fragen, die der weiteren Verständigung dienlich sein konnten, zu stellen.


Retrospektive Joris Ivens

Das Unmögliche zu filmen ist die wunderbarste Sache, die es gibt.“ sagte Joris Ivens, dessen Todestag sich nun zum zwanzigsten Male näherte. Die 50. Retrospektive des Bundesarchiv-Filmarchivs im Rahmen des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm beschäftigte sich daher mit dem außergewöhnlichen und vielfach prämierten Schaffen des niederländischen Filmemachers, der in über 20 Ländern mehr als 80 Filme realisierte.

Den Schwerpunkt der Retrospektive legte man auf Ivens Verweise auf Deutschland. Nach seinem Studium in Berlin kehrte er mehrfach nach Deutschland zurück und arbeitete in den fünfziger Jahren eng mit der DEFA zusammen. Das Programm schlägt den Bogen zwischen frühen avantgardistischen Kurzfilmen, den bedeutenden Werken der dreißiger und fünfziger Jahre, über seine Vietnamfilme, bis hin zu seinem Schaffen in China und seinem letzten Werk „Une histoire du Vent“ aus dem Jahre 1988. Die Zusammenstellung war äußerst gelungen und stellte mehr als nur eine Einführung in das Schaffen des Filmemachers dar.


So ist es vortrefflich, dass im Zuge der Retrospektive eine Sammler-DVD-Box erschienen ist. Durch „Der Weltenfilmer – Joris Ivens: Filme 1912 – 1988“ (69.90 €) wird ein umfassender Teil Ivens‘ Werk einer breiten Masse zugänglich gemacht. Züsatzlich ist dem Box-set das exklusive Buch des Ivens-Experten André Stufkens beigefügt.

Die Tauben und ihre Wettbewerbe

Der Gewinner des Internationalen Wettbewerbs für Dokumentarfilme (ab 45 Minuten) ist der Film „Les arrivants“ („The Arrivals“) von Claudine Bories und Patrice Chagnard aus Frankreich. Er erhielt die Goldene Taube auf Grund seines Blickes auf das wichtige soziale und politische Thema der Migration. So verweilt der Blick auf einer Asylbewerberanlaufstelle in Paris und porträtiert das Aufeinandertreffen der Kulturen, sowie die verschiedensten Hintergründe zu dem Verlangen auf einen Neuanfang. In dem Jury-Statement heißt es, dass der Film gewonnen habe, weil er ausgeglichen porträtiere, dabei aber vor allem ein besonders benötigtes Gefühl von Hoffnung vermittele.

Die Silberne Taube in diesem Segment ging an „La casa“ („The House“) aus Kolumbien von Tayo Cortés. Gezeigt wird das Leben von Victor Mendez, der mit seiner Frau und seiner Mutter in einer notdürftig errichteten Hütte illegal am Stadtrand von Bogotá lebt. Seid vierzig Jahren lebt er dort und doch, auch sein Leben wird zum Alltag und der Haussegen hängt die meiste Zeit schief. Tayo Cortés stellt uns die Individualität hinter der Armut vor und erzählt die Geschichte von einem, der da hineingeboren wurde und der versucht das Beste daraus zu machen.

Die Goldene Taube im internationalen Wettbewerb für Dokumentarfilme bis 45 Minuten ging an den Film „Tying your own shoes“ aus Kanada von Shira Avni. Diese Animadoc, eine Kombination aus Dokumentation und Animation, zeigt, wie vier Erwachsene im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die alle mit einem Chromosomenfehler geboren wurden, dem Down-Syndrom, die Kunst als zweite Sprache gefunden haben. Die Animationen in dem Film sind von ihnen gestaltet und laufen fließend in die Dokumentarebenen ein und so zeigt sich die Verbindung zwischen Leben und Kunst bei einem Thema, das gesellschaftlich immer noch zu Mißverständnissen führt.



Im deutschen Wettbewerb für Dokumentarfilme ging die Goldene Taube an den Film „Rich Brother“ von Insa Onken. Gezeigt wird die Geschichte von Ben aus Kamerun der Asylbewerber in Deutschland ist. Als Asylant darf er nicht arbeiten, dabei hat er den Auftrag der Familie, die ihm diese Möglichkeit verschafften, es selbst zu schaffen in Europa. Sie vertreten die Meinung, dass der Wohlstand hier einem vor die Füße zu fallen scheinen müsse, wenn man sich nur genügend anstrenge. Diesen Wohlstand soll Ben dann nach Kamerun exportieren. Ben entscheidet sich Boxer zu werden, denn Boxen darf er. Insa Onken hält die Kamera auf einen Protagonisten, der von Anfang an nicht geschaffen scheint, dem Druck, der auf ihm lastet und den er sich selber auferlegt, entgegenhalten zu können. Egal ob in Deutschland beim Boxen oder in Kamerun bei der Familie, die Erwartungen, die an ihn gerichtet sind, kann er nicht erfüllen.

Die Talent-Taube im Internationalen Nachwuchswettbewerb mit einer 10.000 € Filmförderung ging an „Antoine“ aus Kanada von Laura Bari. Verantwortlich für den Ton und teilweise mitbeteiligt an der Kameraarbeit war Antoine, der sechsjährige, blinde Junge, der gerne Detektiv spielt. So trifft die Tonebene schon einmal die Bildebene um dann flink davon zu eilen. Es entsteht eine wilde Mischung aus Realität und Einbildungskraft. Hervorgehend aus der grenzenlosen Lust an Freiheit und Phantasie, erkennt man selbst die Lust am Leben.


Im Internationalen Wettbewerb der Animationsfilme ging „Sparni un airi“ („Wings and Oars“) aus Lettland von Vladimir Lesciov mit der Goldenen Taube hervor. Die Stellungnahme der Jury verwies darauf, dass der Film ein poetischer, emotionaler Film sei. Durch seine symbolträchtigen Charaktere und deren Taten sei die Stärke menschlicher Beziehungen durchweg dargestellt.

Der Preis für den besten deutschen Animationsfilm ging an „Never drive a car when you’re dead“ von Gregor Dashuber, einem sozio-musikalischem Blick auf die Gegenwart und ihrer Akteure.


(weiterführende Informationen)

Never Driv A Car When You’re Dead – Filmtipp DOK Festival

The heART of documentary

Man muss zugestehen, auch wenn man als einfacher Festivalbesucher zur DOK-Leipzig kommt und nicht in den Genuss alle Preisträger zu erleben gelangt (auch wenn diese am Sonntag noch einmal gezeigt wurden), dann ist man mit den anderen Filmen der Auswahl, kein bisschen auf der Verliererstrasse angelangt. Des Weiteren möchte ich Ihnen nicht Vorenthalten, dass noch weitere Rubriken existierten wie der MDR Filmpreis, den der polnische Dokumentarfilm „Chemia“ („Chemo“) von Pawel Lozinski gewann, der sich vor allem durch seine konsequente „Fly-on-the-wall“ Haltung auszeichnete. Filme wie „Hacker“ von Alexander Biedermann in der Sonderreihe „Mein leben in Sicherheit“, der von den Alten und Neuen einer Subkultur erzählt und deren vermeintliche Unterschiede aufzeigt. Großartige visuelle Beiträge wie die Dokumentation „Das Rudel“ von Alexander Schimpke, wo eine feste Kamera beim Ultra-Fanblock von Union Berlin diese Subkultur dokumentiert. Filme wie „Side om Side“ („Side by Side“) aus Dänemark von Christian Sonderby Jepsen, der es schafft, durch seinen Film einen fünfzehnjährigen Streit seines Vaters mit seinem Nachbarn aufzulösen.


Außerdem noch zahllose Animationsfilme die hier nicht näher beschrieben werden können, auf Grund ihrer schieren Masse.

Ich kann nur sagen, dass es vieles einzigartiges zu sehen gab in dieser einen Woche. Dies scheint mir wirklich „the heART of documentary“.

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Infobox

Offizielle Internetseite der 52. DOK Leipzig: www.dok-leipzig.de mit dem gesamten Programm, allen Preisträgern, Sonderreihen und Retrospektiven, sowie allen Pressemitteilungen.

Der Festivalkatalog des 52. DOK Leipzig wird von der Leipziger Dok-Filmwochen GmbH herausgegeben. Er hat eine Auflage von 2.000 Stück und kostet 8€.

Zum Thema „20 Jahre Demokratie im Film“ sind unter www.20years.org 18 englisch untertitelte Dokumentar- und Animationsfilme zum kostenlosen Online-Streaming bereitgestellt worden. Die Seite wurde in Zusammenarbeit den Festivals One World Prag, One World Bratislava, Verzio Budapest und Watch Docs Warschau ins Leben gerufen.

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